
Auf dem Weg zum Col d’Aubisque.
Pure Vernunft darf niemals siegen? Mag sein, aber es gibt nunmal ein paar Dinge, die man besser nicht macht, wenn man ein bisschen an seinem Leben hängt. Mit Flip Flops auf Bergtour gehen, Ketamin mit drei Bier kombinieren, „Nazis raus“ in der Cottbus-Kurve brüllen – alles nicht so schlau. Mit meinem Luschen-Trainingsstand 6000 Höhenmeter an einem Tag fahren zu wollen, gehört auch in diese Kategorie. Und deshalb winke ich dankend ab, als mich Tom überzeugen will, die lange Bergfest-Route mitzufahren. Ein Höhenmeter-Massaker mit fünf Tausender-Pässen? Nee danke. Epic Shit ist gut und schön, aber ich hab genug davon in meinem Leben gemacht, um zu ahnen, dass das nach Suizidkommando klingt.
Bei den anderen aus der schnelleren Truppe hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. Alle schon weg, als ich irgendwann nach 8 Uhr in den abgegrasten Frühstücksraum komme. Wenn die heute Abend ihre Heldentaten abfeiern, muss ich weghören, so viel ist klar. Aber erstmal muss ich selber fahren, und ganz ohne ist die kurze Strecke heute auch nicht. Ich komme so ziemlich als Letzte los und bin froh, dass es zunächst ein ganzes Stück leicht bergab geht. Die Straße kenn ich doch – sind wir da gestern nicht erst hochgefahren? Jetzt wird mir auch klar, warum das so anstrengend war.
Anstrengend ist es jetzt überhaupt nicht. Im Gegenteil: Es ist einfach nur herrlich. Ich bin ganz allein, die Morgensonne kündigt einen warmen Tag an und aus den grünen Tälern steigt noch Nebel auf. Im Hintergrund die blaue Silouette von Bergen, Bergen und noch mehr Bergen. Wir brauchen ja noch Aufgaben für die nächsten Tage. Schmerz-Bestandsaufnahme: Hände und Handgelenke melden sich, der Nacken auch ein bisschen, der Rücken bleibt weitgehend ruhig. Auch Tag 7 ohne Ibu? Möglich wär’s.

Wurst im Frühstadium? Hoffentlich nicht.
Ab dem 30. Kilometer tut dann aber doch erstmal alles ordentlich weh. Der erste Berg des Tages begrüßt mich mit einer Rampe, die an den steilsten Stellen über 20 Prozent erreicht. Als die Garmin-Anzeige auf 14 Prozent rutscht, kommt mir das fast schon leicht vor. Später geht es etwas flacher weiter, aber alles andere als gemütlich. Egal, großer Sport wird das hier eh nicht. Dafür haut mich die Landschaft fast vom Rad. Grün und gewaltig sind die Schluchten, die sich rechts neben mir auftun. Hin und wieder stehen niedliche Ponys, prächtige Schafe oder noch prächtigere Kühe am Wegesrand. Die sehen hier alle so aus wie aus dem Bilderbuch. Auf der Abfahrt muss ich ständig anhalten zum Reifenkühlen und Tiere fotografieren. Und Anfassen! Zumindest versuche ich’s, doch die Schafe sind zu flink und wollen nicht.
Nach gut 60 Kilometern treffe ich Schorsch und die anderen Kurzfahrer am Buffet. Wenn alles gut geht, bin ich mit die erste in unserer heutigen Unterkunft und kann entspannt rumliegen, Wäsche waschen und bloggen. Aber ich könnte natürlich auch jetzt auf die lange Route einbiegen und noch ein paar Extra-Höhenmeter sammeln, damit ich gegen die EpicShit-Fraktion nicht ganz so alt aussehe heute Abend.
Ich entscheide mich für letzteres und somit für den Col de Marie Blanc. Berge mit Frauennamen sind mir suspekt, seit ich mir an der fürchterlichen Madeleine in der Mittagshitze die Zähne ausgebissen habe. Die Marie liegt immerhin im Schatten, anstrengend ist sie trotzdem. Ich merke, dass ich fast alle Höhenmeter seit Norwegen an Autobahnbrücken gesammelt habe. Kilometerlange Anstiege gab es jedenfalls nicht mehr und so schleppe ich mich im Schildkrötentempo den Berg hoch, der ja nicht der letzte ist für heute. Unsere Herberge liegt am Col d’Aubisque, und auf den muss ich auch noch rauf.
Erstmal allerdings muss ich dringend Flaschen füllen. Spätis gibt’s nicht, aber Brunnen. Kann man das Wasser trinken? Keine Ahnung, aber ich hab nen robusten Magen und Angst vorm Verdursten, also ist die Sache klar. Weniger klar ist mir, was für ein Brocken der Aubisque ist. Ich stiefele schon eine ganze Weile bergauf, als ich irgendwo ganz oben ein weißes Gebäude sehen. Ist das der Gipfel? Muss ich da etwa hin? Nein, noch viel höher, wie ich nachher feststellen werde. Auf halber Strecke sichte ich die WfF-Fahne vor unserer heutigen Unterkunft. Richtig, die war ja gar nicht auf dem Gipfel. Der Langfahrer-Träck geht aber nach ganz oben und deshalb will ich da auch hin.
Beim Radfahren lernt man ja eine ganze Menge. Beim Radfahren im Hochgebirge vor allem eins: Gleichmut. Man steht unten und muss rauf. Egal, wie lang es dauert, egal was alles wehtut und egal ob man Lust dazu hat. Es hilft kein schimpfen und kein jammern. Es gibt nur eine Sache, die man tun kann: treten. Und das mache ich. Einfach stumpf treten. Hirn ausschalten und mich auf den Gipfel freuen. Die Belohnung kommt aber schon vorher, als ich ein Waldstück verlasse und sich die Pyrenäen in der Abendsonne vor mir erstrecken. Gänsehaut am ganzen Körper, tiefe Dankbarkeit für das alles, Glücksgefühle, Endorphin-Overflow, wohoo!
Auf dem Gipfel Fotos machen, Snickers kaufen, Grinsen, wieder runter fahren, immer noch grinsen. Schlechte Nachrichten derweil von den Epic-Ridern: Herlind ist gestürzt. Alles noch dran, aber blöd. Gute Besserung! Einige mussten dann mit dem Auto fahren, weil die Zeit zu knapp wurde. Am Ende habe ich zwar nur 3800 Höhenmeter auf dem Tacho, aber ich glaube, ich hatte heute von allen den besten Tag auf dem Rad.