Where it all began (Rund um Berlin)

Ich hatte gerade meine Startnummer geholt, da waren die Ersten schon weg.

Vor zehn Jahren saß ich das erste Mal mit Klickpedalen und voller Sportmontur auf dem Rennrad. Das war bei Rund um Berlin. Am Vorabend war ich noch zu Karstadt Sport geeilt und mit Handschuhen und ein paar Socken wiedergekommen. MTB-Helm („Ich seh aus wie ein scheiß Pilz“, Lisz 2009) und Dynamics-Hosen („Ein Atompilz mit Presswurst-Stiel“ ebenfalls Lisz 2009) hatte ich ein paar Tage vorher bei Stadler besorgt. Trotz dieses albernen Aufzugs und des für meine Begriffe viel zu frühen Starts („Elender Frühaufstehersport“, wieder Lisz und da hatte sie Recht) hatte ich Spaß an diesem heißen Augustsonntag. Mit 32 km/h das Krötenpeloton anzuführen fühlte sich an wie Fliegen, meine Trikottaschen dehnten sich über den eingesackten Müsliriegeln und die Sache mit dem Ein- und Ausklicken klappte auch ganz gut. Rumlaufen weniger, ich hatte mir MTB-Cleats auf die glatten Rennradsohlen montiert.

Das erste Rennrad. Sitzposition wie auf nem Hollandrad, aber Hauptsache Aero-Gabel.

Kurz hinter Potsdam (RuB startete damals noch am Olympiastadion) wurde es ruhiger im Feld und meine Mitfahrer raunten etwas von einem gewissen „Willy“, der vorm Ziel noch im Weg stünde. Trommelwirbel im Liszkopf, wann kommt er denn nun, dieser Berg, diese garstige Rampe, der bedeutsamste Pass des Berliner Mittelgebirges? Ein paar Kilometer weiter wusste ich dann, was sie meinten. Aua. Sehr platt und sehr glücklich rettete ich mich ins Ziel, ich glaube, damals wurde noch echtes Bier gereicht. Der Endorphinrausch hielt ungefähr so lange an wie der Muskelkater und ich schwor mir, sowas künftig öfter zu machen.

Mit Rund um Berlin sollte es zwar erstmal nichts mehr werden, beim Radfahren bin ich aber geblieben. Zum Glück. Ohne Rennrad wäre ich wohl nie nach Gran Canaria gekommen, nie nach Chiang Mai, Horni Bradlo oder auf den Galibier. Ohne Rennrad hätte ich eine ganze Menge Menschen nicht kennengelernt und um manche wär’s echt schade. Ohne Rennrad hätte ich nie eine Notaufnahme von innen gesehen. Ich wäre nie dem Geschmack von Erdinger Alkoholfrei erlegen und würde das schöne Gefühl nicht kennen, eine Bäckerei zu betreten und sich vor der Theke zu überlegen, welches Gebäck denn nun die MEISTEN Kalorien hat. Ich hätte niemals 200 Euro für Hosen aus Kunstfaser ausgegeben, sondern all mein Geld für sinnlosen Tand verschleudert. Ich hätte meine Wochenenden werweißwo verbracht, es wäre alles ziemlich öde gewesen. Oder auch nicht, wer weiß das schon.

Fünf Verpflegungsstellen auf 210 km – früher hätte ich an jeder Müsliriegel eingesackt.

Ich war heute jedenfalls aus Jubiläumsgründen wieder bei Rund um Berlin am Start. Aus dem ersten rennradfreien Urlaub seit Jahren hatte ich 2 Wochen Trainingsrückstand und zwei Kilo extra Gewicht mitgebracht, Wingman Tom litt immer noch unter den PBP-Nachwirkungen und musste passen. Nicht die besten Bedingungen also, aber was soll’s, das Wetter war einfach zu schön um den Sonntag im Berghain zu verbringen und ausnahmsweise hatte ich es am Samstag sogar um Mitternacht ins Bett geschafft. Für den Start der Ballergruppe war ich trotzdem zu spät dran, die war schon weg, als ich um 10 vor 8 vom Klo kam. Es ist eben immer noch ein elender Frühaufstehersport.

Also Start auf der Resterampe, zusammen mit Mamils, Vereinsfahrern und ein paar versprengten Hipstern. Erfreulicherweise waren auch ein paar Bekannte dabei und während ich plauderte, hatte ich keine Muße, mir über meinen 180er Puls Gedanken zu machen. Lange Führung gleich am Anfang – clever. Die erste Verpflegung kam schon nach 35 Kilometern, die wollte ich auslassen. Hab ich dann auch, nur dass ich dann in Richtung Grunewald alleine im Wind krepierte – auch schlau. Am Willy rollte die nächste Gruppe auf, ich ließ es bereitwillig geschehen und freute mich auf 170 Kilometer Windschatten. Das hat dann mal mehr, mal weniger gut geklappt. Ich möchte mich an dieser Stelle bei den nimmermüden Windarbeitern bedanken und mich nicht über die Dreistigkeit der Führungsverweigerer beschweren, die zappzarapp kilometerlange Löcher reißen oder – ach, was solls: Fahrt ihr Lappen oder kauft euch E-Bikes!

Wie auch immer, nach 50 Kilometern brannten meine untrainierten Beine, nach 150 schliefen mir die Hände ein, aber immerhin gab’s dazwischen alle Nase lang Pause und irgendwann auch Rückenwind. Ich war trotzdem ganz froh, nach 215 Kilometern wieder in Buckow einzulaufen. Der Endorphin-Flash fiel diesmal weitgehend aus, der Muskelkater nicht. Und immerhin hatte ich heute nen vernünftigen Helm auf.

Strava: https://www.strava.com/activities/2650699508

Strava damals gab’s nicht. Wir hatten ja nichts, nichtmal Garmins.

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Chiang Mai 3: Berge seltsam, Wetter gut

Welcome to the jungle

Ich hab ein neues Hobby: Wellness. In Berlin hab ich noch nie einen Fuß in ein Massagestudio gesetzt, hier war ich schon in dreien innerhalb von gut einer Woche. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der alte Körper vorher oder nachher weher tut, aber wenn ich schon jemanden dafür bezahle, dass er mir mit den Ellenbogen in den Rücken bohrt, dann will ich auch länger was davon haben. Nein, kein Happy End.

Sportlich macht sich das Massageprogramm noch nicht so richtig bemerkbar, die angepeilte Leistungsexplosion ist bislang jedenfalls ausgeblieben. Ich hab eine Vermutung, woran das liegen könnte: Die Berge hier sind nicht wie die in Europa. Sie sind unkalkulierbare Verwandlungskünstler, die steiler und länger werden, je öfter man drüber fährt. Und die restlichen Straßen – ich weiß auch nicht. Die Runde vom ersten Tag kam mir eigentlich gar nicht so schlimm vor. Flach, langer Berg, kurze Abfahrt, kurzer Berg, Abfahrt, steiler Berg, Abfahrt, fertig. So hatte ich das abgespeichert. Als wir das ganze dann aber mal in die andere Richtung fahren wollten, hat plötzlich jemand umgebaut. Die Berge sind noch da, nur sind sind die Anstiege jetzt ungefähr dreieinhalb mal so lang wie die Abfahrten beim ersten Mal. Und das ist eine vorsichtige Schätzung! Und dort, wo eigentlich unser Haus stehen sollte, kommen erstmal 20 Kilometer Baller-Highway. Kurios.

Die Straßen sind hier meistens in sehr brauchbarem Zustand.

Es gibt natürlich auch Berge, die schon bei der Ersterkletterung täuschen und tarnen. Der Mon Cham zum Beispiel. Der Kanadier von Tag eins hatte uns diesen Brocken mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Erschaudern ans Herz gelegt. Es gebe da Stellen von 35 Prozent Steigung: “This mountain teaches you a lot”. “Na sicha du Knilch,” denke ich und überlege, was mir so ein Thai-Berg wohl beibringen kann, was ich nicht schon an der Mauer von Baruth oder in irgendwelchen europäischen Hochgebirgen gelernt hätte.  

Der Weg zum Gipfel  beginnt dann auch mit einem soften Rollereinstieg, streckenweise ist mal das 32er-Ritzel gefragt, aber dann geht auch schon wieder leicht  bergab und nach rund fünf Kilometern summe ich den alten “Ärzte”-Klassiker: “Ist das alles?”. Ist es dann natürlich nicht. Das Schöne an den langen Thai-Bergen: Meistens wird es zwischendurch mal flacher oder es geht sogar mal runter. Weniger schön: Danach geht es meistens umso steiler wieder rauf. Der Mon Cham ist das beste Beispiel, immer wieder entlässt er einen kurz aus seinem Würgegriff, um dann umso unbarmherziger wieder zuzudrücken.

Ich rätsele immer noch, was mir der Berg nun beibringen wollte, außer dass ich da nicht so schnell wieder hoch will. Tom hat gelernt, dass man in Thailand lieber zwei Trinkflaschen mitnimmt. Man kann gar nicht so viel trinken wie man alles wieder ausschwitzt. Zum Glück bekommt man hier an jeder Ecke Flüssigkeitsnachschub. Die Versorgungslage ist überhaupt sehr erfreulich, egal ob auf irgendwelchen Gipfeln oder auf dem platten Land (ja, das gibt’s hier auch). Man kann eigentlich kaum mal 10 Kilometer fahren, ohne dass irgendwo ein Minimarkt oder irgendein Stand mit Obst, Gemüse oder Gegrilltem kommt. “Streetfood” heißt das wohl bei Leuten, die Donnerstags mit dem SUV in die Markthalle 9 pendeln.

Essen mitnehmen braucht man eigentlich nicht, das ist hier ja nicht Brandenburg.

Apropos Essen: Das ist hier fast immer lecker, aber meistens auch schön scharf und es hat ein paar Tage gedauert, die europäischen Gaumen daran zu gewöhnen. Aber als Radfahrer bringt man ja eine gewisse Freude am Leiden mit und inzwischen löffeln wir noch extra Chili über unsere Fitfuckerspeisen. Danach läuft uns dann meistens die Nase. Schleimhäute-Katharsis ist aber auch ganz willkommen bei der Feinstaubbelastung hier. In Thailand gibt’s keinen Tüv und erst recht keine Abgasuntersuchung, partikelfiltertechnisch ist vieles, was hier rumfährt auf dem Stand von 1950 oder so. Das nervt ein bisschen, wenn man zum Beispiel im Feierabendverkehr zehn Minuten hinter 20 Mopeds an irgendeiner Ampel steht. Und noch mehr, wenn man mitten in grüner Dschungelnatur einen Berg hochhechelt und sich dabei Luft in die Lungen zieht, die so klar ist wie in einem Parkhaus, in dem die Belüftung nicht funktioniert.

Aber wie sagte Toms alter Trainer Werner Mies aus dem Ruhrgebiet so schön: “Lieber draußen Krupphusten holen als drinnen den Hintern platt sitzen”. Ich finde ja, man kann sich drinnen auch prima bei der Thaimasage plattklopfen lassen. Aber die muss man sich ja auch erstmal verdienen.

 

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Chiang Mai 2: Surviving Linksverkehr

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Erster Tag geschafft. Mit Toms Hipstamatic-Filter auf der Kamera sieht die Verkehrssituation gleich more epic aus. 

Die Geschichte mit den Höhenmetern entpuppte sich dann als doch nicht so dramatisch. 1000 waren wie durch Zauberhand am nächsten Tag aus Toms Träck verschwunden. 1000 weitere haben wir versehentlich ausgelassen, weil wir einen Abzweig verpasst hatten. Das Bedauern hielt sich in Grenzen. Die eigentliche Herausforderung sollte heute ja auch eine ganz andere sein: Surviving Linksverkehr!

Dass die Leute hier alle in die falsche Richtung fahren, hatte ich schon vorher mitbekommen. Beim gelegentlichen Rollentraining in der Heimat hab ich ein paar Videos von Radfahrern in Thailand geguckt und mich gewundert, dass die nicht alle schon tot sind, so großzügig, wie die die Straße ausnutzen. Irgendwann hab ich dann mal gegoogelt. Da war die Reise aber schon gebucht.

Nun bin ich schon mit dem Rad durch England gefahren und hab das überlebt. Der Unterschied zu hier: da sind englische Autofahrer unterwegs. Die fahren gesittet hintereinander, das ganze ist überschaubar, selbst in London, City-Maut sei Dank. Hier dagegen schieben sich Autos, Mopeds, Tuktuks und ein paar vereinzelte Radfahrer durch die Straßen, oft stehen die Autos auch und dann schlängelt sich alles, was zwei Räder hat, drum herum. Die Verkehrsführung ist ungefähr so übersichtlich wie am Ernst-Reuter-Platz, nur dass wir hier die orientierungslosen Touristen sind. Ein System ist nicht so richtig zu erkennen, alles scheint hier mehr so “go with the flow”-mäßig zu laufen. Ich bin im Berliner Verkehr sozialisiert, da gibt’s Ampeln und Regeln und eine Menge Autofahrernazis, man kann sich überlegen, wie man mit all dem umgeht, aber die Verhältnisse sind zumindest klar. Hier dagegen hab ich keine Ahnung, wie die anderen Verkehrsteilnehmer so ticken, Ampeln gibt’s nur selten, dafür aber einige Kreisverkehre, keine Ahnung, wie ich da heil rein- und vor allem wieder rauskommen soll. Und wird aus rechts vor links hier links vor rechts oder nicht? Ach egal.

Surviving  Linksverkehr

Außerhalb der Stadt ist alles halb so wild.

Erstmal muss ich über die Straße kommen, und das ist gar nicht so einfach, denn der Strom der Autos und Mopeds will einfach nicht enden. Nach zehn Minuten Lauern bin ich tollkühn genug, ich kann Tom ja auch nicht ewig auf der anderen Seite warten lassen. Später lerne ich, wie die Thais in solchen Fällen vorgehen: einfach erstmal am Rand im Gegenverkehr rollern und dann im geeigneten Moment rüberziehen. Bei Autos mangels Platz schwierig, mit Rad und Roller klappt das aber manchmal.

Auf der richtigen Seite der Hauptstraße angekommen, verbringe ich die ersten Kilometer damit, mich einfach immer links zu halten, Schlaglöchern auszuweichen und dabei Toms Hinterrad nicht aus den Augen zu verlieren. Was gar nicht so einfach ist, weil ich aus den Augenwinkeln lauter spannende Sachen sehe. Also vor allem Stände mit Essen. Früher oder später werden wir hier anhalten müssen, Riegel hab ich mir nämlich nicht aus Deutschland mitgebracht, hatten ja nur 30 Kilo Freigepäck (by the way: was hab ich mir eigentlich dabei gedacht, mit der schweren Lederjacke einzureisen?).

Während ich noch überlege, welche Thai-Verpflegung wohl am schnellsten macht, fängt auch schon der erste ernstzunehmende Berg an. Nur weiß ich das noch nicht, weil ich nicht aufs Höhenprofil geschaut habe. Vor uns tauchen andere Rennradfahrer auf, eine drahtige Frau und ein Mann, beide gleiten im eleganten Wiegetritt dahin, sieht ziemlich sportiv aus, zumindest von weitem. “Überhol die bloß nicht”, zische ich zu Tom. Kein Bock, dass das hier gleich in ein Rennen ausartet. Tom nimmt Tempo raus, wir kommen trotzdem immer näher. Na gut, umkippen will ich ja auch nicht, also vorbei da. Sind die so langsam oder bin ich so schnell? Ich hoffe auf letzteres, mag aber nicht so recht dran glauben, doch der Garmin gibt mir Recht: ich klettere hier gerade mit Fitfuckerbeinen den Berg hoch. Wie kann das sein?! Am Lebenswandel der letzten Wochen kann es eigentlich nicht liegen – es sei denn, durchtanzte Klubnächte zählen als Cardio-Workout. Darf ich dann auch Gin-Tonic in die Trinkflasche… Nee, das führt zu weit.

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Von White Christmas träumt hier niemand. 

Wie auch immer, der Berg ist dann doch sehr lang, zum Ende hin zu lang, zum Glück hab ich eine Minibanane in der Trikottasche. An den Ständen, die immer noch gelegentlich auftauchen, sieht es aus wie am Hühnerhaus am Görli, überall ganze Hähnchen am Spieß. Nix für mich. Leicht hungrig geht es nach kurzer Abfahrt in den zweiten Anstieg des Tages, der zwar deutlich kürzer, aber dafür auch deutlich steiler ist. Aua. Erholung gibt es erst auf dem Gipfel, wo wir Nicholas aus Kanada treffen. Er trägt ein ärmelloses Triathletenleibchen, solche Leute kann ich eigentlich nicht ernst nehmen, aber hey, er ist jung und wir sind in den Tropen, da sind solche modischen Fehltritte verzeihlich. Und weil es nett ist, die Strava-Flybys mal persönlich kennenzulernen, steuern wir zu dritt das nächste Café an.

Nicholas erzählt gern, zum Glück nicht nur von seinen Leistungsdaten, sondern auch vom neuen Thailändischen König, der wohl selbst ganz gerne Rad fährt. Sein Volk hat deshalb Radfahrer zu respektieren. Monarchie ist vielleicht doch nicht das schlechteste. Aber in Deutschland wär der Kaiser sicher ADAC-Mitglied und Andi Scheuer wär sein engster Berater… Es scheint jedenfalls einen regelrechten Radfahr-Boom hier zu geben, gerade in Chiang Mai, und man muss höllisch aufpassen, dass man nicht auf einer der vielen Ausfahrten, die hier angeboten werden, von durchtrainierten Thais im Rentenalter kurz und klein gefahren wird. Oder einem der vielen australischen Expats, die hier übersommern und nichts anderes machen als Berge rauf- und runterfahren, um auf Strava mit ihren Leistungen zu prahlen als wär das ein Quartettspiel und als würde es irgendwen interessieren.

Ich fasse den Entschluss, sie alle platt zu fahren. Aber erst morgen oder übermorgen, wenn ich mich akklimatisiert habe. Oder demnächst, wenn ich mich daran erinnert habe, wie Abfahren geht. Oder spätestens in ein paar Wochen, wenn mein Körperfett unter der Tropensonne dahingeschmolzen ist. Zur Not eben erst nächsten Winter, wenn ich wiederkomme. Sollte ich machen, weil Linksverkehr kann ich jetzt jedenfalls.

https://www.strava.com/activities/2052128021

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Chiang Mai 1: Mai Thai? Nee, Thai-Januar

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Traumstrände, Vollmondpartys, Sextourismus, Tempel – interessiert uns alles weniger, aber Radfahren kann man hier wohl auch ganz gut.

Es gibt ein paar gute Gründe, Berlin zu lieben. Der Winter gehört nicht dazu. Deshalb bin ich seit vorgestern in Thailand, genauer im Norden, in Chiang Mai. Dort sollen ganz passable Bedingungen zum Radfahren herrschen, so stand es jedenfalls im Tour-Forum. 20 bis 30 Grad, viel Natur mit brauchbaren Straßen und ein paar Bergen. Dazu thailändisches Essen und günstige Massagen – Tom und ich fanden das ganz überzeugend und haben Flüge gebucht.

Während sich am Silvesterabend der Feinstaubnebel über Berlin legt, sitzen wir in der Boeing 787 hinter brüllenden Babies und gucken uns das Feuerwerk über Warschau an, bzw. das, was durch die Wolken davon zu erkennen ist. Zwischenziel: Doha. Dort haben wir 14 Stunden Aufenthalt, Quatar Airlines zahlt uns dankenswerterweise ein Hotel, doch zunächst scheint es gar nicht so sicher, dass wir den Flughafen überhaupt verlassen dürfen. Dem Beamten am Ausreiseschalter gefällt Toms Reisepass nicht, weil der ein bisschen ramponiert ist. “What is this?”, fragt er fünfmal, während er mit stumpfem Blick auf das beschädigte Papier stiert. Die Erklärungsversuche will er aber gar nicht hören. Stattdessen alarmiert er einen Kollegen, der beide unsere Pässe an sich nimmt, uns ein paar Meter weiter wegführt und stehen lässt.

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Der Abschied von Tegel fällt nicht so schrecklich schwer.

Ich bin müde, hab Hunger und folglich ziemlich schlechte Laune. Ein Verhör zu vergangener Reisetätigkeit in Staaten, die vom WM-Ausrichter 2022 bis heute nicht anerkannt werden, dürfte jetzt für alle Beteiligten nicht so angenehm werden. So weit kommt es dann aber zum Glück doch nicht. Der neue Beamte stolziert in seiner schmucken schwarzen Bundfaltenuniform ein paar Mal vor den Ausreiseschaltern auf und ab, plauscht mit Kollegen, wendet unsere Pässe hin und her, macht aber keine Anstalten irgendwas zu prüfen. Schließlich bekommen wir sie wieder und lassen uns schnellstmöglich zum Westin-Hotel kutschieren. Auf dem Weg durch die gerade erwachende Stadt sehe ich eine einzige Frau, ansonsten nur Männer aus weiter entfernten Teilen von Asien. Im Hotel ist es nicht besser. Der freundliche Rezeptionist weist uns auf die Happy Hour-Angebote in der Bar hin. Nee danke, nach den letzten bacchanalen Wochen in Berlin kommt uns der Aufenthalt im Abstinenzlerstaat eigentlich ganz Recht. Das Frühstück verpassen wir auch, stattdessen ein paar Stunden schlafen und ab in die Sauna, natürlich Männer und Frauen getrennt.

Zurück am Flughafen gibt’s zum Glück keinen Ärger, der Flug läuft reibungslos, diesmal lassen wir uns nichtmal mehr Gin Tonic ausschenken, denn ab jetzt ist das Programm klar: in Thailand wird gefitfuckt, keine Diskussion. Ob das klappt? Zuletzt war ich im Herbst in Kroatien ernsthaft Radfahren, danach beschränkte sich körperliche Ertüchtigung auf halbstündige Ausflüge auf die freie Rolle und diverse Sporttechno-Nächte. Mal sehen, was von der Form noch übrig ist. Aber bitte noch nicht heute.

Um kurz vor 8 Uhr morgens klettern wir vor unserem Quartier aus dem Taxi. Vor 40 Stunden sind wir noch durchs Berghain gesprungen. Das fühlt sich jetzt sehr viel weiter weg an als die 8000 Kilometer zwischen Berlin und Chiang Mai. Zum ernsthaft Radfahren sind wir zu übernächtigt, aber Rumlaufen geht und so brechen wir erstmal zu einem kleinen Gewaltmarsch auf, um zu gucken, wo wir hier eigentlich gelandet sind.

Auf jeden Fall in einer Stadt, in der Fußgänger nicht wirklich vorgesehen sind. Bürgersteige sind holprig, schmal oder gar nicht erst vorhanden, und wenn, werden sie auch gerne von einem der Millionen Mopeds als Ausweichstrecke genutzt. Ampeln gibt’s so gut wie keine. Zu allem Überfluss herrscht auch noch Linksverkehr. Das kann ja heiter werden. Zum Glück scheinen die Autofahrer nicht besonders mordlustig zu sein, das macht Hoffnung für morgen. Da versuchen wir dann mal, uns mit den Rädern aus der Stadt zu hangeln. Tom hat einen Träck gebaut, der angeblich 3500 Höhenmeter auf 80 Kilometer versammelt und ich bin zu müde, um ernsthaft zu protestieren. Er wird schon sehen, was er davon hat.  

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ERT 18, Tag 12: All out

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Katalonisches Stillleben.

Es gibt ja so Vorhaben, da denkt man, die sind nicht weiter schwer, die reißt man auf einer Arschbacke ab. Und dann fängt man an und merkt, dass man sich da gewaltig getäuscht hat. Wer schonmal versucht hat, einen Arbeitslosengeldantrag auszufüllen, weiß wovon ich spreche. Oder einen Ikea-Pax-Schrank aufzubauen. Bei Angriffskriegen ist das Phänomen auch  häufiger zu beobachten. (Hat jemand Stalingrad gesagt?) Beim Radfahren kann das auch passieren. So wie heute.

Die Aufgabe erscheint angesichts dessen, was wir in den letzten Tagen so getrieben haben, geradezu lächerlich: 130 Kilometer mit Rückenwind nach Barcelona runterrollen, gnädigerweise hat der Streckenchef noch einen kleinen Hügel eingeplant, an dem wir Gelegenheit haben, ein paar letzte Höhenmeter zu sammeln. Tom und ich sind von diesem Tagesprogramm dermaßen unbeeindruckt, dass wir erst losrollen, als alle anderen längst über alle Berge sind. Oder das, was hier im Flachland davon übrig ist. Die Mitfahrer müssen aber auch alle früh da sein, weil ihre Edelfräsen heute nachmittag verladen werden sollen. Uns ist das egal, wir nehmen die Räder im Auto mit nach Berlin. Also wenn das Auto noch da steht, wo Tom es vor zwei Wochen geparkt hat. (Spoiler: ja!)

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Schöner als Fitfucker-Hinterräder: Landschaft.

Wir fahren aus Berga raus und es ist herrlich. Nicht ganz so imposant wie die letzten Tage oben im Hochgebirge, aber allemal besser als Brandenburg. Zugegeben, keine Kunst, aber wir wissen das zu würdigen. Böden zwischen saftigem Grün und kargem Steppenbraun, vereinzelte Höfe, Landwirtschaft und am Horizont Berge, Berge und noch mehr Berge. “Das ist hier so, wie die Toskana gerne wäre”, sagt Tom, der Italien hasst und Spanien mag. Wir bummeln gerade herum, weil ich einen Platz zum pinkeln suche, da hören wir von hinten ein Pfeifen und das Sirren teurer Naben. Ich erwarte ein spanisches Semi-Pro-Team, es ist aber nur das ERT-Fitfuckergeschwader, also das erweitere. Die Berliner Gäng fährt heute zum Abschluss nochmal zusammen. Aber ich will lieber die letzten Reste Spanien angucken statt irgendwelcher Hinterräder. Außerdem haben wir es ja nicht so eilig. Die anderen aber offenbar auch nicht, schließlich haben sie gerade schon die erste Kaffeepause hinter sich.

Wir wollen uns das Koffein lieber für die Zeit nach der Verpflegung aufheben, die dann allerdings später kommt als erwartet. Am Buffet-Tapeziertisch herrscht gedämpfte Partystimmung. Letzter Tag, alles muss raus. Der Pfeffiboy (die Leser des Norwegenblogs werden sich erinnern) konnte dieses Mal nicht mit dabei sein, hat uns aber eine Flasche Pfefferminzlikör zukommen lassen, die endlich geleert werden muss. Prost! Ein Schluck kann nicht schaden, wir sind ja eh schon fast in Barcelona.

Davor kommt allerdings noch der angekündigte Hügel. Tom hustet wie ein Bergarbeiter nach 40 Jahren im Braunkohleabbau und ich nutze die Gelegenheit zur Flucht. Die letzten Höhenmeter! Da muss ich meine Kräfte auch nicht mehr einteilen, es ist wie Bulimie nach All-Inclusive-Buffet: alles muss raus! Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: das hier ist nur die erste kleine Kuppe zum Warmwerden. Nach einer kurzen Abfahrt kommt noch ein etwas längerer Hügel. Und danach ein richtiger Berg. Als der dann anfängt, habe ich schon alle Reserven verpulvert und krieche jetzt lahm wie am ersten Tag in Richtung Gipfel. Hieß es nicht, es geht heute nur noch bergab? Pfff. Tom hat seinen Husten in den Griff bekommen und ist natürlich längst entschwunden. Die surrealen Gesteinsformationen um mich herum bieten was fürs Auge, aber ich verliere trotzdem langsam die Lust. Hin und wieder kommen mir Spanier auf teuren Rädern entgegen. Ist hier vermutlich sowas wie der Hausberg der Barcelonenser. Als ich endlich oben ankomme, steckt sich der fitteste Raucher der ERT schon wieder eine Zigarette in den Kopf. Find ich gut. Der soll auf keinen Fall noch schneller werden.

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Am Ende hatte der Streckenplaner wohl auch keine Lust mehr.

Die Abfahrt verspricht spaßig zu werden – endlich fängt der Teil mit dem “nach Barcelona runterrollen” an. Aber mein Begleiter kommt nicht weit. Speichenriss. Verdammt. Welch profanes Ende unserer epischen Tour. Wir rufen die Crew, die ihn aufsammeln soll und für mich geht die Fahrt alleine weiter. Tom drückt mir vorher noch seinen neumodischen Touchscreen-Garmin in die Hand, weil auf meinem mal wieder kein Kartenmaterial drauf ist. Ich stopfe das Ding aber erstmal in die Trikottasche. Als ich es dann tatsächlich ein paar Kilometer später gebrauchen könnte, sind alle Anzeigeoptionen verstellt. Der Träck führt jetzt einen virtuellen Weg entlang, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Zumindest kann ich ihn nicht erkennen. Nur eine schmale, wurzeldurchwirkte  Schotterpiste. Ernsthaft? Davon war in der Streckenankündigung aber keine Rede! Ich wende, drücke ungläubig auf den Garmins herum und komme zu dem Schluss, dass ich hier leider richtig bin. Also gut, kann ja nicht lange so gehen. Tut es dann aber doch. Wurzeln, Sand, Steine groß wie Kinderköpfe – ich spule alle Loblieder, die ich bisher auf den Streckenchef gesungen habe, rückwärts ab und höre satanische Botschaften von Hass und Verderben.    

Mein Händy klingelt, Tom ist dran. Es gab doch keinen Platz mehr im Begleitfahrzeug, dafür hat er jetzt Christians zu großes Trek. Nur leider keinen Track, das Garmin hab ja ich. Zum Glück ist Tom durch die harte Schule seines alten Trainers Werner Mies gegangen und hat diverse “Orientierungsfahrten” durchs Ruhrgebiet mit dürftigem Kartenmaterial überlebt. Diesmal darf er sogar sein Telefon nutzen, also hab ich Hoffnung, dass er mich aufspürt.  

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Wer die Industriestraße in Großbeeren mag, kommt auch hier auf seine Kosten.

Ich warte an der erstbesten Kreuzung, an der ich wieder Asphalt sehe. Ein idyllisches Plätzchen an einer Ausfallstraße ins Industriegebiet, hinter mir ein Gartenbaubedarfshandel, vor mir ein LKW-Parkplatz. Ich setze meinen grimmigsten Gesichtsausdruck auf, um Serienmörder abzuschrecken und lese auf meinem Telefon 45 Artikel übers morgen stattfindende Katalonien-Referendum. Nach einer Stunde taucht mein Lieblingsmitfahrer auf, zum Glück noch rechtzeitig, bevor der Akku stirbt. Inzwischen ist es halb vier vorbei und wir haben leichten Zeitdruck. Toms Rad muss zwar nicht verladen werden – das von Christian aber schon!

Also nicht lange labern, sondern weiter über die Feldwege, die der Streckenplaner für uns vorgesehen hat. Ich unterschätze eine Kante im Boden, mein Rad kippt nach vorne und ich lande daneben. Einen Oscar gibt es für diesen Stunt sicher nicht. Wenigstens ist mein Trek halbwegs heil geblieben und ich anscheinend auch. Die linke Hand tut weh aber gebrochen fühlt sich anders an, also pro-stylemäßig Zähne zusammenbeißen weiter. Gut für die Heldengeschichten hinterher. Jetzt doch noch Ibu? Nee, ich will mir nicht noch auf die letzten Meter die fast saubere Pharma-Bilanz versauen.

Zu den Schmerzen kommt Hunger. Den einzigen Riegel, den ich heute dabei hatte, hab ich oben auf dem Berg gegessen. Konnte ja keiner wissen, dass das hier noch ein tagesfüllendes Abenteuer werden würde. Ich will nen Tankstellenstop, aber Tom will ankommen und Christians Rad einladen und rast im Renntempo durch Vorstädte Barcelonas. In einer Einkaufsstraße bleibt er stehen, zeigt auf einen Imbiss. Er hat Angst vor meiner schlechten Laune bekommen, aber da ist es schon zu spät:  “Dein Ernst? Ich will ein Snickers, keine halbe Stunde beim Kotzekocher rumhängen!”

Endlich erreichen wir Barcelona. Unter normalen Umständen wäre das sicher ein erhebender Moment. Doch für Pathos haben wir heute keinen Nerv mehr und keine Zeit. Außerdem fängt es jetzt auch noch an zu regnen. “In der Stadt – großes Blatt”, ruft der Ex-Kurier und ballert über Prachtstraßen in Richtung Strandpromenade. Statt dort das Mittelmeer zu begrüßen, schlängeln wir uns hektisch an den Spaziergängern vorbei und versuchen, keine kleinen Kinder zu überfahren, jedenfalls nicht so viele. Ich bin mit den Nerven am Ende, verfluche das Wetter, die Leute und Tom sowieso und hoffe, dass ich mich nicht nochmal hinlege. Tu ich dann auch nicht, weil ich die letzten Meter über nasses Pflaster schiebend absolviere.  

Am Hotel sind wir natürlich die Letzten. Die anderen sind schon längst in Zivil auf Sightseeingtour. Schorsch empfängt uns mit einem Zielbier aus dem überteuerten Spanierspäti nebenan und alles ist wieder gut. „Weißt du, was Werner Mies über Rundfahrten gesagt hat?“ fragt Tom:  “Die letzte Etappe ist die letzte Etappe. Und meistens geht alles kaputt”. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

 

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Danke und Werbung

Ob ich noch zu einem vernünftigen Epilog komme, bezweifel ich. Aber Danke sagen muss sein, diesmal allerdings ganz schnell, weil ich mal wieder dringend ins Bett muss. Susi, Doreen, Hermann und Stefan: Ihr seid die besten Betreuer wo gibt.  Immer fair, sicher, gelassen und freundlich, auch wenn das bestimmt nicht immer einfach ist mit 40 bisweilen hungrigen, nörgelnden Radfahrern. Ein Lob auch für den Streckendirk, der sich zu 98 Prozent richtig Mühe gegeben hat. Man merkt eben, dass er weiß, was er da tut und er hat sich sein Sabbatical im nächsten Jahr redlich verdient.

Apropos nächstes Jahr: Der WfF-Verein macht auch 2018 wieder Reisen, allerdings geht es diesmal nicht für zwei Wochen durch Europa, sondern schon im Januar durch Taiwan. Im Sommer führt die Reise nach Belgien in die Ardennen, dann aber nur eine Woche, das reicht dann auch, da isses bekanntlich gerne mal nass und zu viele Pommes sind ungesund. Ich  glaub, das lass ich mir nicht entgehen

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ERT 17, Tag 11: The return of the Stravaasshole

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Ey Internet! Wir brauchen mehr Infos zu Berga und seinen Anarchistentraditionen.

Gestern war der erste Abend auf der Europaradtour, an dem ich komplett nüchtern geblieben bin. Und heute kam der erste Berg, den ich richtig gut hochgeballert bin. Kausalzusammenhänge schließe ich aber aus, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Am Abend hatte ich auch zum ersten Mal Pizza auf der Tour, ziemlich sicher lag’s daran.

Auf die Diavolo vom Vorabend hab ich dann auch erstmal ein üppiges Frühstück draufgeworfen. Was das angeht, hab ich Spanien übrigens komplett unterschätzt. Ich dachte, hier gibts morgens allenfalls ein labbriges Croissant. Stattdessen Kuchen und anderes Süßgebäck, Baguette, Tortilla, Käse und natürlich Wurst. Nur die deutschen Müslijünger werden mit dem Kellogsverschnitt hier nicht glücklich und mantschen sich morgens ihre mitgebrachten Haferflocken. Sollen sie, ich muss schon sehen, dass ich mich nicht überfresse an dem Zeug, was ohnehin da ist.

Das klappt heute nur so mittel, auf den ersten Kilometern liegt das Frühstück jedenfalls noch schwer im Magen. Umso größer die Freude, als keine drei Kilometer nach dem Start schon der erste Berg angekündigt wird. Das kann ja heiter werden. “Wir sehn uns oben”, sage ich zu den Begleitern, die sicher gleich an mir vorbeiziehen. Tun sie aber nicht. Stattdessen bin ich diejenige, die plötzlich vorne fährt. Hä?! Na gut, ist ja auch noch ziemlich flach. Wenigstens Tom erbarmt sich und setzt sich an die Spitze, während er geräuschvoll seine gereizten Bronchien auf die Straße aushustet. Die Spandauer Schrankwand Mark ruft von hinten irgendeinen Raucher-Diss. Ab jetzt ist mein Ziel klar: Ich will diesen Berg so hochfahren, dass ich Tom noch husten, aber Mark nicht mehr brüllen höre.

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Pyrenäen sind auch von unten schön.

Klappt aber nur kurz, denn irgendwann höre ich gar nicht mehr viel. Auch gut. Der Berg fetzt. Die Steigung liegt nie über 8 Prozent, wenn überhaupt, und Garmin sagt, ich bin ganz gut unterwegs. Und das trotz blödem Raspelasphalt. Wenn ich ein Riese wäre, würde ich mir an der Straße sicher gern die Nägel feilen. Aber ich bin nur ein Bergelefant mit Rückenproblemen und hampele Dehnübungen machend auf meinem Rad über den Riffelboden.

Hinter mir blitzt ein blaues Trikot auf. Herlind hat das Potential dieses Ballerbergs offenbar auch erkannt und fliegt an mir vorbei. Äääh, moment ma! Okay, ich hab sie am Anfang ja überholt. Und für Strava zählt nicht, wer als erstes oben ist, sondern wer am kürzesten gebraucht hat. Strava? Na klar. Das Leistungsträger-Schwanzvergleichstool hat mich am Anfang der Tour ja herzlich wenig interessiert. Aber jetzt, wo zu erahnen ist, dass sich der alte Körper wieder ans Radfahren gewöhnt, habe ich beim Bergauffahren plötzlich wieder meinen späteren Platz im Ranking vor Augen. Es nervt, aber es motiviert. Auch wenn es reichlich albern ist. Die letzten Meter bis zum Passschild absolviere ich jedenfalls hart an der Kotzgrenze. Hat sich dann letztlich auch gelohnt, sagt Strava. Na bravo.

Nach dem Berg kommt Abfahrt und dann wieder Berg und dann Büffet. Das steht heute netterweise auf dem Gipfel. Bonus: Nebenan gibt’s eine Berghütte, der Betreiber sieht aus wie ein durchschnittlicher Besucher des Yaam-Clubs, irgendwie links und sehr entspannt. Hinter der Kaffeemaschine hängt ein Bob Marley-Portrait, auf der Terrasse läuft Reggae. Kann ich ja eigentlich nicht leiden, aber weil das hier oben alles so schön surreal ist, gefällt’s mir ganz hervorragend. So gut, dass wir nach dem ersten Kaffee gleich noch einen trinken. Irgendwann müssen wir dann aber doch weiter, es kommen ja noch ein paar Berge.

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Fahrnse rauf, könnse runterkieken.

Erstmal ein unnützer, der zu einer Skistation auf über 2000 Meter führt. Im Sommer wirkt das hier alles sehr befremdlich. Die Hütten sind unbewohnt und es gibt leere Busparkplätze von der Größe des halben Saarlands. Als ich mich so die Steigungen raufquäle, kommt mir Schorsch von oben entgegen: “Mein Träck ist beschmutzt, mein Träck ist beschmutzt!” Man hat ihm wohl verschwiegen, dass das hier nur ein Stich ist. Gleicher Weg runter wie rauf, sieht eben scheiße aus auf dem Träck. Aber wen interessiert die Optik, wenns um die letzten Höhenmeter des Urlaubs geht? Dass das hier nichts für Ästheten ist, wird auf dem “Gipfel”, klar, den man eigentlich gar nicht Gipfel nennen kann. Ein Parkplatz ohne Aussicht, auf dem ein Jung-Katalanenpaar das Autofahren übt.

Egal, im Laufe des Tages gibt es noch reichlich zu gucken und es ist viel Schönes bei. Klar, das hier sind die Pyrenäen! Mein Körper hat von Bergen allerdings inzwischen genug, zumindest für heute. Am vorletzten Anstieg des Tages lasse ich nicht nur Tom, sondern auch Schorsch kampflos ziehen. Strava? Mir doch egal. Am Schluss nochmal ein Stich, rauf zu einem Aussichtsturm, von dem aus man die Geier zur Abwechslung mal von oben angucken kann. Außerdem blickt man auf Berga, die Kleinstadt, in der wir heute wohnen.

Unten ist es angenehm abgerockt, überall hängen Katalanische Fahnen, das  “Si” zum Unabhängigkeitsreferendum findet sich im ganzen Stadtbild, auf Plakaten, auf Transparenten an den Fenstern der Häuser oder in Graffiti. Die anarchistisch-separatistischen Söhne der Stadt werden in großflächigen Wandmalereien geehrt. Wir beschließen, uns das nachher noch näher anzugucken. Erstmal aber ein paar Empfangsbiere trinken. Egal welchen Effekt die nun haben. Morgen kommen sowieso kaum noch Berge.

ERT 17, Tag 10: Li-La-Laune-Liszt

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Da braut sich was zusammen. Inzwischen bin ich so gut gelaunt wie Chuckie die Mörderpuppe.

Mit dem Lisztschen ERT-Ausbruch ist es wie mit einem Sturmtief: Man weiß, dass es kommt. Man weiß nur noch nicht genau, wie heftig es ausfällt und für wen es besonders gefährlich wird. Diesmal sind zum Glück alle Beteiligten ziemlich glimpflich davongekommen.

Der Ruhetag in einem komfortablen spanischen Ski-Resort war zwar ziemlich bewegungsarm, viel geschlafen habe ich aber leider nicht. Unser Apartment war in der Luxusherberge nämlich sowas wie der Friedrichshain in Berlin. Abends waren plötzlich alle Amüsierwilligen da und wollten trinken, dabei wollte ich eigentlich nur ein bisschen bloggen und früh ins Bett.

Morgens sind wir dann natürlich auch wieder die letzten, die loskommen. Wir, das sind heute ich und die Fitfucker, also Sascha und Tierchen und Tom, minus Christian, der wegen der kaputten Hand abreisen musste. Auf den ersten 40 Kilometern gebe ich einen würdigen Ersatz ab. Das ist nicht schwer, weil es Rückenwind gibt und leicht bergab geht. Wir sind jedenfalls ziemlich schnell und ich habe auch noch ziemlich gute Laune. Es ist warm und sonnig und meine Beine haben den Ruhetag offenbar besser zum Erholen genutzt als der Rest von mir.

Am ersten Berg des Tages läuft auch noch alles rund. Keine bösen Steigungen, nach und nach sammle ich die Genussradler der ERT ein. Die letzten Tage haben sich ja einige dem Pässejagen entzogen und sich wegen Schäden an Mensch und Material lieber ins Begleitfahrzeug gesetzt. Der 17 Jahre alte Bonzen-BMW mit eigenem Telefax-Anschluss ist vermutlich einfach zu komfortabel. Heute sind aber die meisten wieder auf der Strecke und kämpfen sich nun den Port del Cantó hoch. Oben auf dem Gipfel bei Kilometer 54 soll das Buffet aufgebaut sein. So hieß es noch am Morgen und damit habe ich auch gerechnet. Die Verpflegungscew steht dann aber schon bei Kilometer 48, mitten am Berg! Ich glaub, es hackt. Was soll das denn? Denkt denn hier niemand an Strava? Und an meinen Magen? Der ist im Bergmodus, gefressen wird erst oben, basta!

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Langweiliger Gipfel.

Ich halte trotzdem kurz an und muss erfahren, dass Tom und Sascha vorbeigebrettert sind. Also Flasche füllen, Stulle schmieren und einpacken und weiter geht’s. Nach einem Kilometer kommen mir die beiden Gipfelstürmer entgegen. Waren schon oben, wollen jetzt essen. Aha. Na dann macht mal. Ich bin ja versorgt. Nur dass ich oben feststelle, dass meine Flasche unten am Buffet steht. Sollen die mir eben gleich mit hochbringen, ich fahr da auf keinen Fall nochmal runter. Der Berg ist eh versaut durch den Zwischenstop. Gefühlte Stunden vergehen, bis meine Wasserträger wieder da sind. In der Zwischenzeit hab ich meine Stulle aufgegesen und hätte gern mehr davon. Außerdem musste ich mir Motorradfahrerdialoge in breitestem Fränkisch mit anhören und hab richtig schlechte Laune bekommen. Das merkt auch Tom, aber ich hab ihn ja schon gewarnt, dass der Tag des Zorns irgendwann kommen wird.

Ich stürze mich in die Abfahrt, die leider so flach ist, dass ich noch richtig treten muss. Na toll, ausgerechnet jetzt, wo ich so schön im Aggro-Hochrisiko-Modus bin. Anhalten, ich brauch Musik. Peaches singt Sick in the head: “Going out you haven’t seen the worst of me yet!” Mein Lied. Sascha steht an irgendeinem Mirador und macht Bilder, Tom ist irgendwo hinter mir und traut sich hoffentlich nicht mehr ran. Ich will die nächsten Kilometer niemanden mehr sehen. Außer vielleicht meine Eingeweide, die ich womöglich irgendwann auskotze, wenn ich in dem Tempo weiterhechle.

Die Laune bessert sich, als ich eine Tankstelle erreiche. Cola für die Trinkflasche und ein Müsliriegel für schlechte Zeiten. Das hier, La Seu d’Urgel, ist schon der heutige Zielort, doch der Streckenplaner schickt uns erstmal nicht ins Hotel, sondern schnell noch in ein anderes Land: Andorra. Ich biege gerade in die Straße ein, die ins Steuerparadies führt, da stelle ich fest, dass mein Hinterreifen mal wieder massiv Luft verloren hat. Okay Karma, I got it. Tom und Gina kommen vorbei und halten an. Gut dass ich mich inzwischen wieder halbwegs eingekriegt habe.

Reifenwechsel, es geht leicht bergauf weiter, aber das merke ich nichtmal. Was ist mit meinen Beinen los heute? Sind die taub? Oder bildet der Körper jetzt natürliches Ibuprofen, nachdem ich ihm keins gebe? Egal, weitermachen. An der Grenze von Andorra verliere ich die anderen, weil ich noch ein Bild machen muss. Ganz schön hässlich hier. Einkaufstempel, gebaut für Leute, die beim Shoppen kein Erlebnis suchen. Tankstellen, die den Hauptumsatz mit Alkohol und Tabakwaren machen.

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Ich wollte ein Bild vom Andorraortsschild. Die anderen Typen aber auch.

Ich muss irgendeinen Berg hoch. Es gibt heute zwei, doch der eine von beiden soll langweilig sein, den fährt heute eh keiner. Also nehme ich die erste steile Rampe, die sich bietet und stelle fest, dass ich richtig bin, als ich irgendwo ein paar Serpentinen über mir Dirk und Herlind und Gina erspähe. Blöder Berg, dieser Collada de la Gallina. Klingt wie ein Nachtisch, ist aber bitter. Babypopoasphalt, aber zu steil. Und zu lang. Komme ich überhaupt mit meinem Wasser hin? Verliert mein Hinterrad schon wieder Luft oder wieso klebt das wie Pattex? Und wo bleibt mein körpereigenes Ibuprofen? Peaches singt immer noch. “I don’t wanna loose you”. Sie meint das sicher anders, aber ich beziehe das auf die körperfettbefreiten Bergziegen, die da vor mir munter hochkurbeln. Dranbleiben. Oder zumindest nicht zu weit abfallen. Immerhin ist Andorra nicht mehr ganz so hässlich, wenn man von oben drauf guckt. Trotzdem würde ich jetzt gerne mal wieder runterfahren.

Endlich der Gipfel. Die anderen warten schon und machen Fotos. Mehr als Aussicht gibt’s hier oben nicht. Die ganze tolle Auffahrt wurde nämlich nur asphaltiert, weil hier vor zwei Jahren die Profis von der Vuelta hochgeprügelt sind. Welch sinnloser Berg! Aber trotzdem nett, wenn man die Abfahrt mag. Schnell raus aus Andorra, vorbei am kilometerlangem Zollfreitouristenstau. Als wir am Hotel ankommen, hab ich richtig Hunger und auch wieder ziemlich gute Laune und rauche mit Tom erstmal eine zollfreie Zigarette. Die Ruhe nach dem Sturm.

 

ERT 17, Tag 9: Unterwegs mit Werner Mies

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200 Meter dahinter steht der Schein-Bär.

„Wer sich am Ruhetag noch bewegen will, der hat nicht ordentlich trainiert“, hat Toms alter Trainer Werner Mies gesagt. Am Ruhetag bewegen? So weit darf es auf keinen Fall kommen! Und die Chancen, sich ordentlich in den Bett+Bier-Modus zu fahren, sind gut. Vier Pässe, 160 Kilometer – fürs Sufferfest fehlt eigentlich nur noch schlechtes Wetter, aber das soll es heute nicht geben. Nachdem ich gestern auf der Tourmalet-Abfahrt fast erfroren bin, ziehe ich mich trotzdem an wie für eine Sibirienexpedition.

Zu warm“, stelle ich fest, als ich die ersten Meter des Peyresourde hochkurbele. Läuft trotzdem ganz gut und Tom, der sich unten verquatscht hat, muss sich fast ein bisschen anstrengen, um zu mir aufzuschließen. Jetzt, wo ich so langsam in Bergform komme, wollen wir endlich mal zusammen fahren, und zwar die lange Route. Auf dem Weg zum nächsten Col, dem Port de Balès, holen uns Salamanderchristian und Sascha ein. Sollen die Fitfucker mal fahren, ich mach gemütlich, dehne meinen Rücken und guck mir die Gegend an. Sehr idyllisch hier. Ich hab mir die Pyrenäen viel karger vorgestellt, nicht so grün. Tom denkt laut über ein Chalet am Fuß des Peyresourde nach. Ich versuche ihm das auszureden. Keine Zivilisation! Keine Spätis! Keine Leute zum drüber aufregen!

Auf dem Gipfel treffen wir die anderen wieder. Fotomachen, abfahren. Also: die anderen fahren ab, ich bremse runter. Es ist schließlich eng und mal wieder nass und dreckig und vielleicht auch glitschig, man weiß ja nie hier in Pyrenähenländria. Ein paar Kehren später stehen die drei Berggötter am Straßenrand. Christian ist gestürzt und seine linke Hand sieht aus wie ein Splatterfilmstatist. Nicht gut. Telefonieren is nicht wegen Funkloch, also rollen wir zum nächsten Ort weiter, wo der Verletzte später abgeholt wird. Sascha und Ulrich bleiben noch bei ihm, ich muss ans eigene Überleben denken und rolle mit Tom in Richtung Pass Nummer 3, den Portillon.

Vorher brauchen wir aber noch was zu Essen, weil es heute auf der langen Strecke kein Buffet gibt. In Luchon, einem edlen, leicht verrottenden Kurort, werden wir fündig. Es gibt Waffeln, Blaubeercrepe, Kaffee, noch einen Kaffee und – was soll der Geiz – noch einen Kaffee. Und danach gibt es Berg. Leichtes Spiel fürs Team Koffein! Zumindest kurbelt sich der Portillon ziemlich entspannt im Plaudertempo. Nur warm ist es. Ich will die dicken Merionarmwärmer loswerden. Und die Schuhkappen und die Kniewärmer am besten auch gleich. Aber is nich. Wehe, es wird nachher nicht richtig kalt!

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Irgendein Denkmal für irgendwelche Radsportler, die hier mal raufgefahren sind.

Auf dem Col steht die Polizei. Zum Glück sind die nicht wegen uns da, sondern weil das hier die Grenze zu Spanien ist. Au revoir France! Es war schön hier die letzten drei Tage, man kann ungechlortes Trinkwasser aus dem Hahn trinken, die Pässe haben Namen, die man aus Funk und Fernsehen kennt, und ich kann mich halbwegs verständigen. Dafür begrüßt uns Spanien mit einer Abfahrt, an der sogar ich Spaß habe.

Der letzte Berg vorm Ruhetag beginnt ziemlich harmlos. Breite Straße mit Verkehr drauf und man merkt gar nicht richtig, dass es die ganze Zeit bergauf geht. Komische Wintersportorte, aber alles noch ziemlich belebt. Eine letzte Pinkel- und Dehnpause, schnell noch den letzten Riegel in den Kopf geschoben, das Zeug muss ja weg. Weiterkurbeln. Es wird einsamer. Und steiler. Macht aber noch Spaß und die Gegend fetzt auch. In der Abendsonne wirken die Pyrenäen fast aquarellartig hingepinselt.

Noch 30 Kilometer bis zur Unterkunft, das sollte zu machen sein vor Sonnenuntergang. Aber nur, wenn ich demnächst mal was zu essen bekomme. Aber das wird schwierig. Der letzte Wintersportort vorm Gipfel ist noch im Sommerschlaf. Hotels und Restaurants sind verwaist, Cola- und Snäckautomaten sind leer. Um 6.52 Uhr schaut Tom auf sein Garmin. Wir sind genau 6 Stunden 52 unterwegs. “Wenn Fahrtzeit und Uhrzeit übereinstimmen, steht hinter der nächsten Kurve eine mobile spanische Caféteria, hat mein alter Trainer Werner Mies gesagt” sagt Tom. Stimmt aber dann doch nicht, leider.

Ich merke wie die Kraft aus meinen Beinen schwindet, Hungerastalarm! Zum Glück haben wir noch ein letztes Gel dabei, meine Rettung. Was könnten wir denn gleich alles essen? Bocadillo, Steak oder doch lieber einen Berg Kartoffeln? Egal, ich nehm alles! Irgendwann eine Skistation. Ein breiter Parkplatz, ein Gipfelschild: Port de la Bonaigua, 2072 Meter. Kennt man nicht, muss man auch nicht kennen, ist in dem Moment aber der schönste Col der Welt. Tom muss sich erstmal hinsetzen und eine rauchen. Ich muss herausfinden, was das für ein Tier ist, das da 200 Meter vor uns auf einer Wiese steht. Sieht aus wie ein Bär, die solls hier ja geben. Es bewegt sich nicht. Hoffentlich bleibt das auch so, wenn ich gleich vorbeifahre.

Der Bär erweist sich als Pferd. Und meine warmen Klamotten erweisen sich jetzt als sehr nützlich. Auf der 20 Kilometer langen Abfahrt freue ich mich jedenfalls über jede Extraschicht, die ich die letzten 140 Kilometer mitgeschleppt habe. Dass die Kälte eine gute Ausrede ist für meine Langsamkeit, muss ich wahrscheinlich nicht extra erwähnen. Immerhin schaffen wir es rechtzeitig vor 20 Uhr in den Supermarkt unseres luxuriösen Ruhetagsortes. Panikkäufe in Radlerkluft. Brot, Wurst, Bier, damit wir uns heute bloß nicht mehr zum Essengehen bewegen müssen. Werner Mies hätte das gefallen.

PS:  – Gute Besserung Christian!
– Danke Susi, beste Quartierorganisateurin, für diese perfekte Ruhetagsunterkunft! Rapha-Travles hätte uns nicht schöner unterbringen können.

 

ERT 17, Tag 8: Was hat dich bloß so runiert?

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Tourmalet. Been there, done that. Irgendwann will  ich aber auch mal sehen, wie es hier aussieht.

Seit ich die Europaradtour mitfahre, gibt es zwei Ereignisse, auf die man sich verlassen kann. Das eine: Es kommt der Tag, an dem ich ausraste. Das andere: Es regnet. Ausrasten müsste noch kommen. Der Tag mit dem Regen war heute. Mehr müssen es von mir aus auch nicht werden.

Am Anfang sieht es noch gar nicht so schlecht aus. Nur eben ziemlich neblig, als wir den Rest vom Col d’Aubisque raufkurbeln. Gut, dass ich gestern schonmal oben war und mich an der Aussicht berauscht habe. Heute liegen die Abhänge zur Linken in weißem Dunst, man kann die ganze Pyrenäenschönheit dahinter nichtmal erahnen. Als ich oben ankomme, hüllen sich Tierchen, Sascha und die anderen, die vor mir los sind, gerade in ihre Abfahrerkluft. Ich ziehe die Regenjacke an und fange an, langsam runter zu rollen. Großer Sport ist das nicht, was ich hier abziehe. Aber hey, diesmal ist es nass und ich hab ne Ausrede für meine nicht mehr vorhandenen Abfahrtskünste. Nur dass die ohnehin keiner hört, weil alle längst weg sind.

Viele Kilometer später sehe ich das Rudel wieder am Straßenrand stehen. Planänderung: Kurze Strecke statt lange, der Tourmalet wird wegen Wetter gestrichen, wir fahren nach Lourdes, Versehrte gucken. Moment mal, Sascha und der Salamandermann verzichten freiwillig auf einen Pass? Okay, die stehen bestimmt noch unter dem Einfluss ihres gestrigen Höhenmetermassakers. Ich dagegen hab noch Nachholbedarf an epischem Kram, außerdem ist der Tourmalet ein Tour de France Monument und wer weiß wann ich nochmal in die Gegend komme blablabla. Die pure Vernunft hat jedenfalls keine Chance und so verzichte ich auf die Freakshow im Wunderheilungsort und klemme mich an die Hinterräder von Johannes und Ulrich, die sich den Tourmalet auch nicht entgehen lassen wollen.

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Kitkat und Cola. Essen wie Gott in Frankreich hab ich mir irgendwie anders vorgestellt.

Ein Kaffee vorher wäre schön. Im Touristenort vor dem Anstieg gibt es zwar verlockende Boulangerien und Patisserien zuhauf, doch die haben gerade alle Mittagspause, so ungefähr von 12 bis 16 Uhr. Kein Wunder, dass die Franzosen tendenziell schlank sind. Essen können die ja fast nie kaufen. Immerhin finden wir einen gut sortierten Supermarkt, vor dem wir uns schnell Fertigwaffeln und Kaffee aus dem Kühlregal einverleiben. Hab ich erwähnt, dass Radfahren kulinarisch anspruchslos macht?

Über den Aufstieg auf den Tourmalet kann ich nicht viel sagen. Er ist ganz angenehm zu fahren. Der Ausblick beschränkt sich heute allerdings auf 20 Meter Asphalt vor mir, der Rest ist Nebel. Wenigstens erkenne ich dann auch nicht die Schluchten, die sich womöglich neben mir auftun. Ob das so klug ist, da heute raufzuklettern? Außer mir habe ich bis jetzt nur einen älteren Typen ohne Helm gesehen, und der sah nicht so aus, als würde er es bis nach oben schaffen. Ein paar Kilometer später erahne ich keine 30 Meter vor mir eine schemenhafte Gestalt auf dem Rad. Okay, es gibt also doch noch ein paar Verrückte. Sogar mehrere, und die sammle ich jetzt einen nach dem anderen ein. Ich will jetzt endlich oben sein. Oder noch besser: wieder unten. Denn die Abfahrt wird kein Spaß, das weiß ich jetzt schon.

Und sie ist dann sogar noch schlimmer als erwartet, denn kurz nach dem vernebelten Gipfelfoto fängt es an zu regnen. Es ist kalt, es ist nass und ich sehe nix. Nur einen Esel, der auf der Straße steht. Kann ich nicht auf dem runterreiten? Alle paar Meter muss ich anhalten, weil Hände und Nacken vom vielen Bremsen schon ganz steif sind. Um die Strecke zu sehen, muss ich auf den Garmin gucken. Aber selbst als es schnurgerade runter geht, und als der Nebel sich lichtet, traue ich mich nicht, laufen zu lassen. Warum zum Teufel bin ich auf einmal zu blöd, Berge runter zu fahren? Noch vor zwei Jahren bin ich Pisten mit badewannengroßen Schlaglöchern nach dem Motto „wer bremst, verliert“ runtergekachelt. Und jetzt? Ein Trauerspiel. In meinem Kopf spielen die Sterne: „Wo fing das an und wann? Was hat dich irritiert? Was hat dich bloß so ruiniert?“

Mein Lied! Auch in der dritten Abfahrt des Tages vom Col d’Aspin. Es ist immer noch feucht und außerdem wurde an der Seite gerade Gras gemäht, es könnte glatt sein! Irgendwas ist immer. Jetzt ist erstmal Pastaparty in unserem Wifi-freien Chalet. Sie hat immer Hunger, sie muss immer essen… Morgen gibt es übrigens wieder ein Träck, der wie ein Titel von den Sternen klingt: Vier Pässe, 160 Kilometer, 3800 Höhenmeter. „Gerechtes Brett!“

ERT 17, Tag 7: Lucky Liszt macht keinen Epic Shit

 

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Auf dem Weg zum Col d’Aubisque.

Pure Vernunft darf niemals siegen? Mag sein, aber es gibt nunmal ein paar Dinge, die man besser nicht macht, wenn man ein bisschen an seinem Leben hängt. Mit Flip Flops auf Bergtour gehen, Ketamin mit drei Bier kombinieren, „Nazis raus“ in der Cottbus-Kurve brüllen – alles nicht so schlau. Mit meinem Luschen-Trainingsstand 6000 Höhenmeter an einem Tag fahren zu wollen, gehört auch in diese Kategorie. Und deshalb winke ich dankend ab, als mich Tom überzeugen will, die lange Bergfest-Route mitzufahren. Ein Höhenmeter-Massaker mit fünf Tausender-Pässen? Nee danke. Epic Shit ist gut und schön, aber ich hab genug davon in meinem Leben gemacht, um zu ahnen, dass das nach Suizidkommando klingt.

Bei den anderen aus der schnelleren Truppe hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. Alle schon weg, als ich irgendwann nach 8 Uhr in den abgegrasten Frühstücksraum komme. Wenn die heute Abend ihre Heldentaten abfeiern, muss ich weghören, so viel ist klar. Aber erstmal muss ich selber fahren, und ganz ohne ist die kurze Strecke heute auch nicht. Ich komme so ziemlich als Letzte los und bin froh, dass es zunächst ein ganzes Stück leicht bergab geht. Die Straße kenn ich doch – sind wir da gestern nicht erst hochgefahren? Jetzt wird mir auch klar, warum das so anstrengend war.

Anstrengend ist es jetzt überhaupt nicht. Im Gegenteil: Es ist einfach nur herrlich. Ich bin ganz allein, die Morgensonne kündigt einen warmen Tag an und aus den grünen Tälern steigt noch Nebel auf. Im Hintergrund die blaue Silouette von Bergen, Bergen und noch mehr Bergen. Wir brauchen ja noch Aufgaben für die nächsten Tage. Schmerz-Bestandsaufnahme: Hände und Handgelenke melden sich, der Nacken auch ein bisschen, der Rücken bleibt weitgehend ruhig. Auch Tag 7 ohne Ibu? Möglich wär’s.

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Wurst im Frühstadium? Hoffentlich nicht.

Ab dem 30. Kilometer tut dann aber doch erstmal alles ordentlich weh. Der erste Berg des Tages begrüßt mich mit einer Rampe, die an den steilsten Stellen über 20 Prozent erreicht. Als die Garmin-Anzeige auf 14 Prozent rutscht, kommt mir das fast schon leicht vor. Später geht es etwas flacher weiter, aber alles andere als gemütlich. Egal, großer Sport wird das hier eh nicht. Dafür haut mich die Landschaft fast vom Rad. Grün und gewaltig sind die Schluchten, die sich rechts neben mir auftun. Hin und wieder stehen niedliche Ponys, prächtige Schafe oder noch prächtigere Kühe am Wegesrand. Die sehen hier alle so aus wie aus dem Bilderbuch. Auf der Abfahrt muss ich ständig anhalten zum Reifenkühlen und Tiere fotografieren. Und Anfassen! Zumindest versuche ich’s, doch die Schafe sind zu flink und wollen nicht.

Nach gut 60 Kilometern treffe ich Schorsch und die anderen Kurzfahrer am Buffet. Wenn alles gut geht, bin ich mit die erste in unserer heutigen Unterkunft und kann entspannt rumliegen, Wäsche waschen und bloggen. Aber ich könnte natürlich auch jetzt auf die lange Route einbiegen und noch ein paar Extra-Höhenmeter sammeln, damit ich gegen die EpicShit-Fraktion nicht ganz so alt aussehe heute Abend.

Ich entscheide mich für letzteres und somit für den Col de Marie Blanc. Berge mit Frauennamen sind mir suspekt, seit ich mir an der fürchterlichen Madeleine in der Mittagshitze die Zähne ausgebissen habe. Die Marie liegt immerhin im Schatten, anstrengend ist sie trotzdem. Ich merke, dass ich fast alle Höhenmeter seit Norwegen an Autobahnbrücken gesammelt habe. Kilometerlange Anstiege gab es jedenfalls nicht mehr und so schleppe ich mich im Schildkrötentempo den Berg hoch, der ja nicht der letzte ist für heute. Unsere Herberge liegt am Col d’Aubisque, und auf den muss ich auch noch rauf.

Erstmal allerdings muss ich dringend Flaschen füllen. Spätis gibt’s nicht, aber Brunnen. Kann man das Wasser trinken? Keine Ahnung, aber ich hab nen robusten Magen und Angst vorm Verdursten, also ist die Sache klar. Weniger klar ist mir, was für ein Brocken der Aubisque ist. Ich stiefele schon eine ganze Weile bergauf, als ich irgendwo ganz oben ein weißes Gebäude sehen. Ist das der Gipfel? Muss ich da etwa hin? Nein, noch viel höher, wie ich nachher feststellen werde. Auf halber Strecke sichte ich die WfF-Fahne vor unserer heutigen Unterkunft. Richtig, die war ja gar nicht auf dem Gipfel. Der Langfahrer-Träck geht aber nach ganz oben und deshalb will ich da auch hin.

Beim Radfahren lernt man ja eine ganze Menge. Beim Radfahren im Hochgebirge vor allem eins: Gleichmut. Man steht unten und muss rauf. Egal, wie lang es dauert, egal was alles wehtut und egal ob man Lust dazu hat. Es hilft kein schimpfen und kein jammern. Es gibt nur eine Sache, die man tun kann: treten. Und das mache ich. Einfach stumpf treten. Hirn ausschalten und mich auf den Gipfel freuen. Die Belohnung kommt aber schon vorher, als ich ein Waldstück verlasse und sich die Pyrenäen in der Abendsonne vor mir erstrecken. Gänsehaut am ganzen Körper, tiefe Dankbarkeit für das alles, Glücksgefühle, Endorphin-Overflow, wohoo!

Auf dem Gipfel Fotos machen, Snickers kaufen, Grinsen, wieder runter fahren, immer noch grinsen. Schlechte Nachrichten derweil von den Epic-Ridern: Herlind ist gestürzt. Alles noch dran, aber blöd. Gute Besserung! Einige mussten dann mit dem Auto fahren, weil die Zeit zu knapp wurde. Am Ende habe ich zwar nur 3800 Höhenmeter auf dem Tacho, aber ich glaube, ich hatte heute von allen den besten Tag auf dem Rad.